K ulturwissenschaftliches Institut für Europaforschung



    Wolfgang Thierse
    Fünf Thesen zur Vorbereitung eines Aktionsprogramms für Ostdeutschland

    (1) Eine ehrliche Bestandsaufnahme muss feststellen, dass die wirtschaftliche und soziale Lage in Ostdeutschland auf der Kippe steht. Die Zukunft Ostdeutschlands entscheidet sich deshalb nicht erst im Jahr 2004, wie das Ringen um die Fortsetzung des Solidarpaktes der Öffentlichkeit glauben macht, sondern noch vor der kommenden Bundestagswahl!

    - Das ostdeutsche Wirtschaftswachstum bleibt seit einigen Jahren hinter dem im Westen zurück. Bei wichtigen Indikatoren herrscht so gut wie Stagnation (BIP, Produktivität und Einkommen). Die positive Tendenz im verarbeitenden Gewerbe, beachtliche 13 Prozent Umsatzwachstum im Jahr 2000 gegenüber 1999, kann die rückläufigen Entwicklungen in anderen Bereichen, vor allem im Baugewerbe, nicht kompensieren. Dabei wird auch die strukturelle Schwäche der ostdeutschen Wirtschaft deutlich. Das verarbeitende Gewerbe produziert bislang lediglich 6 Prozent des Gesamtumsatzes der Branche in ganz Deutschland.

    - Die ostdeutsche Beschäftigungssituation ist weiterhin prekär. Die Fortschritte im verarbeitenden Gewerbe werden durch den anhaltenden Arbeitsplatzabbau vor allem beim Bau und im Öffentlichen Dienst aufgesogen. Seit 1998 ist die Arbeitslosenquote im Osten vom 1,8-fachen im Jahr 2000 auf das 2,3-fache der Arbeitslosenquote im Westen gestiegen. Die Schere ging somit um weitere 30 Prozent auseinander. Die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Arbeitnehmer im Osten sank seit 1998 um weitere 200.000, erstmals unter 5 Millionen. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen lag im Oktober 2000 um fast 10 Prozent höher als im Oktober 1998.

    - Jugendarbeitslosigkeit ist eines der gravierendsten Probleme in Ostdeutschland. 150 000 Arbeitslose sind unter 25 Jahre alt, 15 Prozent mehr als 1998 (vgl. Daten für Oktober). Bundesweit ist die Jugendarbeitslosigkeit dagegen seit 1998 deutlich zurückgegangen. Ohne das JUMP-Programm der Bundesregierung, an dem rund 30 000 Jugendliche aus den neuen Ländern teilnehmen - etwa die Hälfte aller Teilnehmer an dem Programm - wäre es in Ostdeutschland zu einem dramatischen Anstieg der Jugendarbeitslosigkeit gekommen!

    - Die konjunkturelle Abkoppelung des Ostens und die damit zusammenhängende verschärfte Ost-West-Spaltung des Arbeitsmarktes führt zwangsläufig zu steigender Abwanderung qualifizierter und mobiler Arbeitskräfte sowie Auszubildender von Ost nach West. Dazu leisten seit kurzem die Arbeitsvermittlung und die Berufsberatung in bester Absicht Beihilfe - neuerdings sogar verstärkt durch die Mobilitätshilfen für Jugendliche über das JUMP-Programm der Bundesregierung. Seit dem Tiefststand des Wanderungsverlustes im Jahr 1997 in Höhe von 10 000 Personen hat sich der Negativsaldo bis 1999 wieder auf ca. 44 000 erhöht. Wenn nichts geschieht, werden wir im Jahr 2002 den Negativsaldo von 1992 wieder erreichen.

    - Der Verlust an vorwiegend qualifizierten Arbeitskräften zieht Kaufkraftverluste, verringerte Steuereinnahmen und Finanzkraft der ostdeutschen Kommunen nach sich. Dies führt unvermeidlich zu weiteren Verlusten der Attraktivität des Standorts. 1998 lagen die kommunalen Steuereinnahmen pro Kopf bei etwas mehr als einem Drittel des Vergleichswertes im Westen (DIW 3/2000). Die Ausgleichszahlungen an die Gemeinden reichen nicht aus, um erforderliche Investitionen in die kommunale Infrastruktur zu finanzieren, weil wachsende Sozialausgaben die verbliebenen Spielräume einengen.

    - Der entscheidende Zukunftsindikator - der Anteil der Investitionen an der Bruttowertschöpfung - ist rückläufig, und zwar nicht nur wegen der Entwicklung im öffentlichen Sektor und im Bauwesen, sondern auch im verarbeitenden Gewerbe. Die Investitionen in den ostdeutschen industriellen Kapitalstocks erreichten 1999 mit ca. 12 Milliarden Mark den niedrigsten Stand seit 1995, im Westen stiegen die Investitionen 1999 dagegen um 5,7 Prozent und erreichten ca. 90 Milliarden Mark. Bei einem geschätzten Investitionsbedarfes der Industrie Ostdeutschlands von ca. 260 Milliarden Mark werden die überwiegend mittelständischen ostdeutschen Unternehmen allein die erforderlichen Leistungen in den nächsten zehn Jahren aber nicht aufbringen können - auch nicht in Verbindung mit öffentlichen Fördermitteln in Höhe von 100 Milliarden Mark. Ohne externe Investitionsbereitschaft, die eine nachhaltig höhere Investitionsrate an der Bruttowertschöpfung in diesem Bereich ermöglicht, kann von einem wirtschaftlichen Aufholprozess folglich keine Rede sein.

    (2) Je länger der Aufholprozess stagniert, desto deutlicher werden sich Abwärtstrends beschleunigen und auch das Erreichte, die teilweise teuer bezahlte Substanz gefährden. Stabilität und Vertrauen werden in die Region nur zurückkehren, wenn verlässliche Rahmenbedingungen geschaffen und Prioritäten bei Zukunftsinvestitionen im Osten gesetzt werden.

    - Es muss klar gesagt werden: Sparen kann man im Fall Ostdeutschlands nur, wenn man in die wirtschaftliche Entwicklung investiert! Ansonsten wird ein wachsender Anteil der Zuwendungen lediglich als sozialpolitische Nachsorge versickern. Deshalb kann auch eine Politik der "Verstetigung" den bereits stattfindenden Vertrauensverlust nicht mehr kompensieren und kommt die Orientierung auf einen Neuanfang im Rahmen des Solidaritätspaktes 2004 nicht nur psychologisch, sondern auch praktisch zu spät. Mit der Osterweiterung der EU werden vermutlich bedeutend weniger europäische Mittel aus der Regionalförderung für Ostdeutschland zur Verfügung stehen. Deshalb muss vor diesem Zeitpunkt in Ostdeutschland eine neue Investitionsoffensive greifen, um einen weiteren Anpassungsschock zu verhindern.

    - Wenn das Signal bald kommt, kann es Hoffnungen auf einen nachhaltigen Neuanfang freisetzen. Der von den Wirtschaftsinstituten auf ca. 300 Milliarden Mark bezifferte Nachholbedarf an öffentlichen Infrastruktur-Investitionen ist eine Vorgabe, die innerhalb eines realistischen Zeitrahmens abgearbeitet werden kann. Das erfordert aber das Festschreiben der Transfers bis 2010 auf der gegenwärtigen relativen Höhe von ca. 3,5 Prozent des Bruttosozialproduktes. Das würde bei einem angenommenen gesamtwirtschaftlichen Wachstum von durchschnittlich 3 Prozent schon 2005 etwa 20 Milliarden Mark an zusätzlichen Investitionen ermöglichen.

    - Kommunen und Gebietskörperschaften in Ostdeutschland müssen in die Lage versetzt werden, ihre Substanz zu erhalten und angemessene Standortqualitäten zu schaffen. Zentrale Bedeutung könnte dabei der Eindämmung substanzaufzehrender Abwanderung zukommen. Für die Wiedereingliederung Arbeitsloser müssten Kommunen dafür als lokale und regionale Auftraggeber von Investitionen entsprechend dem Vorschlag des Arbeitsministeriums Brandenburg für eine "Beschäftigungspolitische Initiative zur kommunalen Infrastrukturförderung" durch Bund, Länder und die Bundesanstalt für Arbeit mit Mitteln ausgestattet werden. So könnten sowohl Infrastruktur-Investitionen, als auch Arbeitsplätze für die Zielgruppen der gegenwärtigen Arbeitsförderung geschaffen werden.

    - Es wird keinen Aufschwung ohne Wissenschaft geben. Nach der Abwicklung der ostdeutschen Industrieforschung - personell ist sie seit 1990 auf ein Fünftel geschrumpft - besteht keine Hoffnung, dass sich im Umfeld vorwiegend kleiner und mittlerer Unternehmen in Ostdeutschland Forschungs- und Entwicklungskapazitäten von selbst etablieren. Hier kann nur mit Hilfe des Bundes ein langfristig entscheidendes Strukturdefizit behoben werden - so wie es in der Bundesrepublik über viele Jahre zugunsten von Bayern, Baden-Württemberg oder Westberlin geschah. Die Strukturprobleme der ostdeutschen Hochschulen sind von den Ländern allein auch aus Gründen der negativen demographischen Entwicklung nicht lösbar. Die neuen Ansätze der Bundesregierung für eine Zukunftsinitiative Hochschule und die Förderung innovativer Wachstumskerne weisen in die richtige Richtung.

    (3) Wenn das Ziel, der Aufbau einer eigenständigen wirtschaftlichen Basis in Ostdeutschland erreicht werden soll, müssen die Prinzipien der Förderpolitik auf ihre nachhaltige und Arbeit schaffende Wirkung überprüft und im Hinblick auf die Erweiterung der Europäischen Union an einem Leitbild der Entwicklung Ostdeutschlands in europäischer Perspektive orientiert werden.

    - Investitionen und Ansiedlungen, die Prioritäten des Ausbaus der Infrastruktur, der Wissenschafts- und Forschungslandschaft, sowie der Verkehrswege sollten sich an einem Leitbild orientieren, das Ostdeutschland als europäische Verbindungsregion profiliert. Dabei handelt es sich nicht nur um die Frage der politischen Motivation für weitere finanzielle Anstrengungen. Es geht gleichermaßen um die Herstellung gesellschaftlicher Akzeptanz für die europäische Integration.

    - Die Instrumente der Wirtschaftsförderung und der Arbeitsmarktpolitik sollten daraufhin überprüft und nach klaren Prinzipien neu gefasst werden, um eine Konzentration und Prioritätensetzung zu bewirken. Zum Beispiel: Wertschöpfende Investitionen gehen vor passive Lohnersatzleistungen. Investoren, die eine Standortbindung und -verflechtung garantieren, werden besser gestellt als solche, die nach der Förderung problemlos abwandern können usw.

    - Die ostdeutsche Wirtschaft wird sich auf moderne, kapitalintensive und wissensgestützte mittelständische Produktions- und Dienstleistungsunternehmen stützen müssen, um der Osterweiterung der EU gewachsen zu sein. Eine moderne Infrastruktur und ein Umfeld von Hochschul- und Forschungseinrichtungen, die sich strategisch auf die Kooperation mit Osteuropa orientieren, Studenten aus diesen Ländern ausbilden mit den Ziel der Vernetzung von Partnern der Zukunft, sind Beispiele für die Chancen Ostdeutschlands in diesem Prozess.

    - Ostdeutsches Know-how kann sich auf eigene Erfahrungen bei der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Transformation stützen, die im weiteren europäischen Integrationsprozess neue Relevanz bekommen. Damit lässt sich nicht nur Wissenschaftspotenzial in Ostdeutschland binden, es müssen dafür auch institutionelle Voraussetzungen geschaffen werden. Dies wird ein zusätzlicher Weg sein, um kleinen und mittleren Unternehmen Märkte im Osten zu erschließen.

    (4) Die objektiven Probleme Ostdeutschlands und die Herausforderungen des kommenden Jahrzehnts können nur gelöst werden, wenn die subjektive Seite, das Vertrauen der Menschen in die Zukunft der Region, in ihren Eigenwert und in ihre Eigenverantwortung durch die Politik gestärkt werden.

    http://www.wolfgang-thierse.net/spd.html

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